An diesem Tag wurde Flüchtlingen, die auf einer ungarischen Autobahn für eine Weiterreise in den Westen demonstrierten, die Einreise in die Bundesrepublik gestattet. Das war der Auftakt für einen Herbst und einen Winter, den niemand von uns vergessen wird. In den nächsten vier Monaten folgten nämlich Hunderttausende, am Ende des Jahres waren es eine Million Flüchtlinge. Und die Auswirkungen werden uns noch lange beschäftigen, in der Gesellschaft und in der Politik. Die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern mit einem starken rechten Block lassen grüßen.
War die Entscheidung der deutschen Bundeskanzlerin und des österreichischen Bundeskanzlers richtig oder falsch? Meine Meinung: Ich fand und finde es richtig, dass in der akuten Situation gehandelt und damit Gewalt gegen Flüchtlinge verhindert wurde. Diese Entscheidung war aber mit einem entscheidenden Fehler verbunden: Sie war unbefristet. Anstelle der EU etwas Zeit zu verschaffen, auf die Flüchtlingskrise doch noch eine gemeinsame Antwort zu finden, zumindest aber das weitere Vorgehen in Deutschland zu klären, geschah etwas anderes: Zum einen wurden buchstäblich bei Millionen von Menschen Hoffnungen geweckt, auch sie könnten alle in Deutschland Aufnahme finden. Und zum anderen hatte sich damit die Bundesrepublik innerhalb Europas auf einen Sonderweg begeben, so als ob unser Land eine solche Herausforderung für ganz Europa würde alleine lösen können. Das war eigentlich von Anfang ausgeschlossen, aber schon der Anschein hat es den anderen EU-Mitgliedern erlaubt, sich einer Mitarbeit größtenteils zu verweigern. Auch deswegen habe ich schon Mitte September 2015 gefragt, wie eigentlich ein Plan B aussehen würde. Die Wahrheit war: Es gab keinen.
Die Folgen waren dramatisch: Der Staat war bekanntlich monatelang am Rande und teilweise auch jenseits seiner Möglichkeiten . Wer kam, wohin er oder sie ging – es gab lange keinen Überblick. Es dazu kommen zu lassen, war ebenfalls ein gravierender Fehler und wenn heute bei vielen Menschen Unsicherheit zu spüren ist, hängt das sicher auch mit dieser Erfahrung zusammen, die uns bis dahin mit unserem Staat fremd war.
So wenig also aus meiner Sicht der Herbst 2015 ein Glanzstück der deutschen Politik war, so tief beeindruckend war die Reaktion in unserer Gesellschaft. Es gab eine Welle der Hilfsbereitschaft und das Engagement von vielen tausend Bürgerinnen und Bürgern war überwältigend. Das Schöne ist: Diese Hilfsbereitschaft hält bis heute an. Alleine in Niedersachsen gibt es überall etliche zehntausend Menschen, die nach wie vor bei der Integration helfen – darüber wird viel zu wenig geredet und berichtet.
Und ein Jahr später? Vieles ist begonnen worden, damit aus vielen Flüchtlingen des Jahre 2015 Nachbarn werden. In den niedersächsischen Schulen sind 36.000 neue Schülerinnen und Schüler, die natürlich als erstes die Sprache lernen müssen. Dasselbe gilt für Erwachsene, für die große Sprachförderprogramme angelaufen sind. Es gibt viele gute Beispiele für Kontakte zwischen den "alten" und den "neuen" Mitgliedern unserer Gesellschaft. Was mir am meisten fehlt: Ein klares und effektives System der Integration in den Arbeitsmarkt, denn der Bund stellt sich dieser Aufgabe immer noch nur halbherzig.
Der 5. September 2015 wird uns also noch lange begleiten. Klar, das ist eine Riesenaufgabe, aber gleichzeitig ist unser Land stark wie vielleicht noch nie zuvor. Das ist die beste Grundlage dafür, mit Tatkraft und auch einer gehörigen Portion Zuversicht weiter zu arbeiten an der Integration. Auch das gehört zu den richtigen Lehren aus dem 5. September 2015.